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Bildung und Kultur – Learning from Culture

Dokumentation Politik / Citizenship


Politik Citizenship 12-2018

Weihnachten 2018

Was ist der Mensch?

 

(H.C.) Immanuel Kants drei Fragen, was der Mensch erkennen könne, was er tun solle und was er hoffen dürfe, münden in der vierten, was der Mensch eigentlich sei. Die bleibende Faszination und Hoffnung, die das Weihnachtsfest in allen Kulturen hervorruft, lässt uns fragen, was Weihnachten uns über Wesen, Sehnsüchte und Nöte des Menschen sagt. Und was macht die Sehnsucht nach Frieden so aktuell wie je?

 

Archaischer Kampf

Die vorchristlichen indoeuropäischen Mythen sahen die Natur- und Seelenkräfte des Kosmos in einem unaufhörlichen Kampf. Hunger, Krieg, Geschlecht, Fruchtbarkeit, Herrschaft und Rache auf der einen Seite standen in mörderischem Ringen gegeneinander sowie gegen Vernunft, Sitte, Kunstfertigkeit, Treue, Ehre und Freundschaft auf der anderen Seite, die ihrerseits miteinander im Zwist lagen. Ewig schien der Konflikt untereinander zu sein der "heißen" und der "kühlen", der "dunklen" und der "hellen" Göttermächte. Das gewaltige Ringen ohne sicheren Ausgang spiegelte eine historische Erfahrung der Menschen. Das geopolitische Machtringen der Weltmächte erinnert heute an dieses Ringen der Götter.

 

Vollkommen …. sinnlos

Die isländische Edda setzt in den unvordenklichen Beginn der Dinge Ymir, eine weiblich-männlich vollkommene Urgottheit. Aber sie ist bereits eingespannt in einen Abgrund, ein Nichts zwischen Feuer und Eis. Obwohl vollkommen, durchlebt Ymir im voraus das Kernproblem des Menschen: das Hängen im Nichts, in der Sinnlosigkeit seines Lebens. Und so wie die sinnfreie Vollkommenheit keinen Sinn macht, wachsen aus Leib und Füssen Ymirs einseitig-eigensinnig die Urgötter, die ihren je besonderen Eigensinn, ihren Lauf und rasenden Kampf beginnen. Sie zerteilen das Dasein in Himmel und Erde, töten Ymir, bringen den Menschen hervor und stellen diesen mitten hinein in die Widersprüche.

 

Abgründige Freiheit

Hier wie in den Mythen der Griechen ist der Mensch als erkennendes Wesen zur Entscheidung zwischen Gegensätzen aufgerufen, er ist frei! Er ist aber zugleich den Wesensmächten, die in ihm selbst und um ihn herum kämpfen, heillos unterlegen. Die Tragik der Helden in den Epen der frühen Völkerwanderungszeit liegt darin, den entgegengesetzten Göttern gehorchen zu müssen und gerade durch diesen ethischen Gehorsam zu scheitern. Die Mysterienspiele des antiken Griechenland zelebrierten diese Tragik als religiöse Selbstbesinnung der Stadt. Die Stadt – polis – war der Schutzraum und das Zentrum des politischen Daseins der Menschen.

 

Tragik des guten Willens

Der Held Orestes des Dichters Aischylos und der Held Ödipus des Dichters Sophokles: Beide scheitern an ihrem Gehorsam gegen die einander widerstrebenden Götter. Je mehr sie für das Gute kämpfen, desto mehr verstricken sie sich in Schuld. Die Götter selbst müssen – in Gestalt der Athene des Aischylos – schließlich ihre Parteilichkeit und Unfähigkeit zum gerechten Gericht bekennen. Sie lassen die Menschen ihre eigene Gerichtsbarkeit und politische Gesetzgebung einrichten. Diese ist zwar unvollkommen, aber entscheidungsfähig. Die Götter knüpfen nur eine Bedingung an ihr Bestehen: Dass die Menschen stets ihre Achtung, Vorsicht und Scheu vor den Natur- und Seelengewalten bewahren, ihnen göttliche Verehrung zollen. Sonst müssten diese wieder aus dem Gleichgewicht fallen und im erneut rasenden Kampf die Menschen fortreißen und Stadt und Kultur der Menschen zerstören. Das Problem der Menschen, politischen Frieden herzustellen, schien durch diesen Kompromiss einer menschlichen Gesetzgebung provisorisch gelöst.

 

Ungelöste Sinnfrage

Aber das Hauptproblem des Menschen, die letzte Sinnlosigkeit seines Daseins und Kämpfens, sei es für Gutes oder Böses, dieses Hauptproblem blieb ungelöst. Der Tod war sinnlos. Die altgriechischen Menschen blieben von der Hoffnungslosigkeit einer radikal realistischen, aber tragischen Welterfahrung geprägt.

Es war erst eine Kette von Einsichten beginnend mit den „Vorsokratikern“ über Sophokles und Sokrates, Platon und Aristoteles, die eine neue Sicht vermittelte. Denn religiös, kosmologisch, naturwissenschaftlich, psychologisch, ontologisch (Seins-logisch), fanden sie zu dem Schluss, hinter diesem Welttheater, noch jenseits des erlebbaren Seins selber, könne und müsse als Bühnenmeister ein vollkommener, allgegenwärtiger, vernunftvoller und guter, ein universaler Gott stehen und wirken.

 

Hoffnung auf einen ewigen Gott

Eine zarte und akademische, hoch aufblickende und gut begründete Einsicht war das. Aber die Gesamtheit der griechischen Kultur scherte sich nicht ums Grundsätzliche. Sie gab sich dem neuen Reichtum durch Geldwirtschaft und Handel hin. Sie wähnte sich kurze Zeit auf der Sonnenseite des Lebens und dankte dafür ihren alten Göttern. Sie brauchte gerade keine zusätzliche Einsicht. Man bezahlte statt dessen die Sophisten, versierte Rhetoriklehrer und Spezialisten für Marketing, um für sich die politische und wirtschaftliche Macht auszubauen. So konnte wenige Generationen später der Apostel Paulus schreiben:

„… das von Gott Erkennbare unter ihnen [ist] offenbar, da Gott es ihnen offenbar gemacht hat; denn sein unsichtbares Wesen, nämlich seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt an den Werken durch Nachdenken wahrgenommen, sodass sie keine Entschuldigung haben. Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild, das dem vergänglichen Menschen, den Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren gleicht. Darum hat sie Gott auch dahingegeben in die Begierden ihrer Herzen … “

Röm . 1;19-24

 

Was bewirkte Weihnachten?

Unter römischer Herrschaft verschwand die griechische Selbstgewissheit, die tragische gegenseitige Schuldverstrickung der Gottheiten und die Sinnlosigkeit des Daseins wurden wieder bewusst. Die Botschaft vom Erscheinen des ewigen göttlichen Erlösers fiel in die Herzen wie der Herbstregen auf das vertrocknete Feld. Dass die ewige Vollkommenheit Mensch geworden sei, um alle Menschen in seine Vollkommenheit zu holen, das löste die unlösbare Sinnfrage auf. Und dass eben dieser Ewige als Mensch durch seinen stellvertretenden realen Tod alle Schuldverstrickungen der Menschen auf sich genommen habe, besiegte die Angst vor der eigenen Unvollkommenheit.

 

Befreite Freiheit

Freiheit ist die Tragik und Herausforderung des Menschen. Auch Immanuel Kant sah diese Freiheit nicht als leicht begreifbar und verfügbar an, sondern als unergründlich, widersprüchlich. Die Hoffnung der europäischen Aufklärung auf eine rationale Selbstherrschaft des Menschen, der seine Erkenntnismacht zur Abschaffung von Zufall, Krankheit, Leid und Tod einsetzt, war sogar ihm suspekt. Vertreter des modernen Freiheitsideals leugnen gerne die Schuldverstrickung des Menschen. Der scheinbar so einheitliche und eindeutige Mensch ist mitsamt seiner Welt, wie der Altgrieche Heraklit formulierte, eine „gegenstrebige Fügung“. Frei wird die Freiheit erst, wenn sie den Folgen des Handelns ins Auge blicken kann, ohne vor Angst zu erstarren. Wirklich frei ist der Mensch nur, wenn er guten Gewissens handeln kann, ohne zuerst seine Schuldverstrickung zu leugnen. Freiheit ist ethisch nur etwas wert, wenn sie sich alle Grenzen und Folgen ihres Tuns bewusst macht und trotzdem handeln kann.

Martin Luther hat aus dem jüdischen Alten Testament die ganze Tiefe der schuldhaften Verstrickung des Menschen in die Seinsmächte der Welt wieder entdeckt. Sie übertrifft womöglich an radikaler Hoffnungslosigkeit noch die tragische Selbsterfahrung der anderen Völker. Aus der Hoffnungslosigkeit und tödlichen Sinnlosigkeit hat das Kind in der Krippe ganz Europa und später die Welt zu einer Hoffnung auf ewiges Leben erweckt.

Nachlesen:
Das Evangelium des Lukas, Kap. 1 und 2.

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